Der 10. November 1938 in Oberbieber

Auszug aus: Dorothea Elisabeth Deeters: "Sie lebten mit uns", Oberbieber 1983, S. 41 f.

„Am 10. November 1938 brach der lang gesäte und sorgfältig geschürte Haß eines Teiles der Bevölkerung auf Befehl offen aus.

In Neuwied hatten die Untaten bereits während der Nacht begonnen, und das Gerücht war vorausgeeilt. Am Morgen begann SA in Oberbieber mit der Verheerung und Plünderung jüdischer Häuser; es waren nicht nur Einheimische, sondern (dem Vernehmen nach) auch SA aus der Nachbarschaft (z. B. Straßenhaus) beteiligt. Hausrat, Bettzeug und Eier, die ganz neue Nähmaschine, das Klavier und die Druckereimaschinen wurden aus den Fenstern geworfen, je nachdem auf die Straße oder in den Aubach. Der Rektor gab unterrichtsfrei; die meisten Lehrer bestellten die Kinder an die Synagoge, »um zu sehen, wie sie angezündet wird«. Nur ein Lehrer verweigerte sich diesem Vorhaben: Herr Lampert ging mit seiner Klasse bis zum Nachmittag in den Wald.

Die Bürger wurden unter Strafandrohung vorgewarnt, sich nicht einzumischen. Der Bürgermeister eilte auf den Hof des Brandmeisters der Feuerwehr. »Die SA wird gleich die Synagoge anzünden; Du mußt ausrücken lassen!« – »Bei Brandstiftung muß ich sofort Anzeige erstatten.« – Entgegnung: »Die Gestapo steht auch schon da.« = So rückte die Feuerwehr erst aus, als die Flammen bereits hochschlugen und alle Nachbarhäuser in Gefahr brachten.

Das Gedächtnis des Dorfes hat die Szenen vor der brennenden Synagoge und »Afrums« Haus in vielen einzelnen Bildern bewahrt. Am tiefsten indie Erinnerung eingegraben haben sich die Augen der Gehetzten, wehrlos, unfähig zu verstehen, mit dringlicher stummer Frage: Du warst mein Freund! Warum hilfst du mir nicht? Diejenigen, die nicht mit der SA zündeten, mißhandelten, plünderten, schrien, Steine warfen und Menschen hetzten, lernten, was nackte Angst ist, und wie man hilflos schuldig wird, indem man sich in das nächstgelegene Eckchen zurückzieht.

Damals war der Hang des Wingertsberges neben dem Pfarrhaus mit Fichten bestanden. Einige Juden versuchten, sich dort zu verstecken; Erich Meyer holten sie mit Gewalt zurück. Dort stand auch Lina Tobias mit ihrem Kind im Umschlagtuch. Die Gehetzten flohen schließlich das Aubachtal hinauf. Oben im Tal versteckte Lina T. ihr Kind im Wald unter dem Herbstlaub, um es später heimlich zurückzuholen, denn die Verfolger kamen schon hinterher – mit Pferden. An die Pferde gebunden wurden die Flüchtigen zurückgehetzt, »heim« in ihre verwüsteten Häuser.

Nachmittag – ein Kindergartenkind, fünf Jahre alt, wird zusammen mit den anderen Kindern von der Leiterin des Kindergartens durchs Dorf geführt, von einem Judenhaus zum anderen; sie sehen die Betten im Bach und durchs Fenster die aufgerissenen Schränke und Schubladen, das zerschlagene Geschirr. Der kleine Junge träumt über Wochen und Woche den stets gleichen Albtraum: »Noch ein Jud!«, und dann fliegen die Betten . .

Am 10. oder 11. November sind die jüdischen Männer abgeführt worden. Philipp Levy, der am 10. 11. in Vallendar gewesen war und sich mit Frau und Kind auf de Dach des Salomonschen Hauses hinter dem Schornstein versteckt hatte, ist anscheinend der Festnahme entgangen. Genauere Aussagen zu Verhaftung, Transport und späterer Entlassung der Männer sind in Oberbieber nicht mehr zu bekommen. Jakob Levy soll damals im KZ Dachau umgekommen sein. Einer der Söhne muß die Leiche im versiegelten Sarg freigekauft haben. Solche Fälle von Freikauf sind belegt; das kostete 500 RM. Jakob Levy liegt in Niederbieber neben seiner Frau Betty begraben.“

 

Das gesamte Buch von Dorothea Elisabeth Deeters hier als PDF öffnen

Zurück zur Themenauswahl

Wir setzen Cookies zur optimalen Nutzung unserer Website ein. Nähere Informationen dazu finden Sie »hier