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Auszüge aus einem Brief von Gunter Ransenberg aus Mexiko vom 11.3.1981, Sohn des letzten Rabbiners und Lehrers der jüdischen Gemeinde Neuwied, einziger Überlebender seiner Familie

Weiterlesen: Günter Ransenberg: Erinnerungen an die Neuwieder Synagoge (1981)
Günter Ransenberg

„… Die jüdische Volksschule. Dort, wo mein Vater Lehrer war und dort, wo ich geboren wurde. Anfang dieses Jahrhunderts, als die jüdische Schule staatlich wurde, kam auch das Schulgebäude in städtischen Besitz und als solcher wurde das Haus in jener infamen Nacht der Zerstörung jüdischer Gotteshäuser vor der Zerstörung gerettet, bis es dann im Jahre 1980 der Modernisierung des Straßennetzes zum Opfer fallen musste.

Fast neben der Schule nun befand sich die viel, viel ältere Synagoge, ein ganzes Stück von der Front der Häuser zurückgesetzt. … Ich weiß nicht, ob es einer gesetzlichen Vorschrift entsprach, dass diese Synagoge so versteckt und unauffällig gebaut worden war. In der Schlossstrasse wurde ihre Sicht von den Häuschen vollkommen verdeckt.

Nur derjenige, der sich vorsätzlich bis in die Mitte der Sackgasse begab, konnte die Synagoge gewahr werden. Eine Mauer aus Steinen bis zur halben Höhe und dann mit Drahtgitter in der oberen Hälfte trennte das Gebäude von der Straße.
Ein kleines, grünes Vorgärtchen gab dann den Blick auf die Synagoge frei, deren Bau an eine große Kapelle erinnern konnte. Zwei große Rundbogen-Fenster gaben ihr einen feierlichen und kirchlichen Charakter.
Zwei Zugänge durch den Vorgarten gaben den Eintritt frei: Zuerst einmal geradeaus das doppelte, schwergewichtige Holztor, durch das des Samstags und des Feiertags die männlichen Andächtigen eintreten konnten. – und linker Hand etwas zurück lag der schmale Nebeneingang , der auch als Eingang zur Frauensynagoge diente. (…)

Wer bedeckten Hauptes in die Synagoge eintrat, gewahrte unter sich den alten, schon abgetretenen Teppich, der das Geräusch der Schritte dämpfte. Linker Hand begrenzte die Mauer die Sicht. Auf ihr hing gleich beim Eingang eine Tafel, auf der mit Kreide bereits die deutschen Chöre angegeben waren, die an diesem Sabbat aus dem Choralbuch der Synagogengemeinde Neuwied zu singen seien. – Und einen Schritt weiter befand sich die bronzene Tafel, auf der die 11 oder 12 Juden verzeichnet waren, die während des ersten Weltkriegs gefallen waren (…).

Und über uns verdunkelte die vorgezogene Empore unsere Sicht. Sie wurde von verschiedenen eisernen Pfosten getragen. Dort oben befand sich das Harmonium und der Platz für den Chor.

Altar der Synagoge
Altar der Synagoge

Am Mittelgang müssen wir dem großen, gusseisernen Ofen Platz machen, der des Wintertags versuchte, den großen Raum zu erwärmen. Wenn wir uns nun vor den Ofen stellen und gen Osten blicken (also in die Synagoge hinein), dann sehen wir an der Ostwand (genau nach religiöser Vorschrift) den Altar, etwas erhöht, mit den beiden siebenarmigen Leuchtern an der Seite. Und in der Wand dahinter den Thora-Schrein, dessen Tür geschlossen ist und von einem samtenen Vorhang verdeckt wird. Der Vorhang trägt hebräische Schriftzeichen, die aussagen, wer diesen Vorhang einmal und zu wessen Andenken gestiftet hat. Im Gottesdienst und beim zentralen und wichtigen Moment wurde der Vorhang geöffnet. Der Vorbeter entnahm eine der 6 oder 8 handgeschriebenen Thora-Rollen, um daraus den zuständigen Abschnitt des Tages vorzutragen.

Rechts und links von uns sind die langen Holzbänke, jede wohl für 6 Personen gedacht. Vielleicht waren es 14 Bankreihen beiderseits. ….. Auf der linken Seite der Doppelreihen war ein Erweiterungsbau deutlich zu erkennen. Er wurde von Pfeilern getragen, die einst mit einer Mauer verbunden waren: Sie trennte diesen Teil vollkommen von dem Rest der Synagoge ab. – Das war die Frauensynagoge.
Seit mehr als hundert Jahren wohl war die Mauer abgerissen, aber die Teilung noch klar erkennbar. …[Trotzdem wurde die] Trennung von Frauen- und Männerseite bis zuletzt streng durchgeführt.

Wie anfänglich erzählt, gab es also noch den Nebeneingang. Der führte zunächst in einen recht dunklen Flur. Auf der rechten Seite des Flures ist die schmale Eingangstür zur Frauensynagoge. … Das Flürchen endete linker Hand in eine Art Kohlenschuppen, wo der Vorrat für den Ofen aufgestapelt wurde. Dieser Raum war früher, wie ich hörte, das Frauenbad, das vorgeschriebene Tauchbad für die Frauen. Aber zu meinen Lebzeiten schon außer Dienst. …

Im ersten Stock befanden sich 2 Räume: Erstens ein kleiner Vorraum zum Chor rechter Hand und geradeaus der größere Sitzungssaal. Dort tagten Repräsentanz und Vorstand und dort hielt auch jeder jüdische Verein seine Sitzungen ab. …

Nun kennen wir ein wenig von der Neuwieder Synagoge. Da stand sie nun, versteckt in der Sackgasse, unauflöslich verbunden mit meiner Jugend, die ich wohlgeschützt zwischen Schule und Synagoge verbrachte. – Wahrzeichen auch einer toleranten Zeit, als der fürstliche Gründer der Stadt jedermann aufforderte, am Wachstum der Stadt teilzuhaben, ungeachtet seines religiösen Bekenntnisses. …
Bis dann im Jahre 1938 feige Brandstifter, meist sogar von außen herbeigeeilt, das kleine Gotteshaus anzündeten, dem Ruf einer rohen Epoche folgend!
Sie starb zuerst, die kleine, bescheidene Synagoge; [danach] begann dann das Martyrium und der Tod und die Entwürdigung seiner Gläubigen!“

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Dorothea Elisabeth Deeters ("Sie lebten mit uns") berichtet aus Zeitzeugenaussagen zu Kurt Platz:

„Wenn Menschen nur mehr eingleisig denken können, werden sie gefährlich, weil sie auch nicht mehr mitfühlen. Im Juli 1932, zwischen der Einsetzung eines Reichskommissars für Preußen durch die Regierung Papen und der Reichstagswahl am 31. 7., hatte ein Bauer auf seinem Hof mitten im Dorf die Hakenkreuzfahne gehißt. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli holten Unbekannte die Fahne herunter, applizierten statt des Hakenkreuzes Hammer und Sichel und zogen die Fahne wieder auf.

Dies von manchen als schwere Kränkung empfundene, von anderen gewiß belachte Ereignis hatte zwei Jahre später ein fragwürdiges Nachspiel. Frauen aus Oberbieber erstatteten Anzeige gegen Kurt Platz. Ihre Aussage war, sie hätten am 9. 12. 1934 auf offener Straße einen Familienkrach der Eltern und Söhne Platz mit angehört; dem sei zu entnehmen gewesen, daß Kurt verraten könne, wer der oder die Übeltäter des Fahnenzwischenfalls von 1932 gewesen seien.

Bei der Verhandlung ergab sich, daß Frau Platz' Bruder Gegenstand der Auseinandersetzung gewesen war. Die Sache wurde behördlicherseits fallengelassen. (LHA Koblenz, Abt. 475 Nr. 1853)“

 

Quelle: Dorothea Elisabeth Deeters, "Sie lebten mit uns", Oberbieber 1983  S. 37

Juan Günther Ransenberg Pueblo/ Mexiko

So sah ich damals, nicht wissend,

dass mit der „Endlösung" meine Erlebnisse

nur eine

Bagatelle, eine Kleinigkeit sein würden!

25. Oktober 1988"

 

1939

Die Tränen säen, werden den Fluch ernten!
(Aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen)


,,Wer glaubt Deutschland, das Deutschland der starken Männer, aus Zeitungsnotizen zu kennen, irrt. Wer aber glaubt, dieses Deutschland durch neuerlichen Besuch auf Herz und Nieren prüfen zu können, der irrt gewaltig. Der täuscht sich ebenso kindisch, wie jener Schiffspassagier, der nach einer Ozeanüberquerung davon sprach, das Meer zu kennen.

Das Meer und seine gewaltigen Geheimnisse fühlen nur die Lebewesen wirklich, die darin leben. Das Schiff aber durchfurcht nur die Oberfläche: So geht es auch mit der Kenntnis des inneren Lebens der totalitären Staaten, insbesondere Deutschlands. Nur gering sind die Kenntnisse, die, trotz allem, aus ihnen zu den anderen Ländern dringen. Dafür sorgt die Propaganda, dieser sorgfältige Verdeckungs- und Verdrehungsapparat, den man dort so vorzüglich zu handhaben weiß. Dafür sorgen der Druck und die Drangsal, die auf den Menschen im Inneren lasten. Nur die können Wesentliches erzählen, die die Hölle erlebt haben und ihr entronnen sind. Auf sie müssen die Menschen horchen, die eines guten Willens sind und der Menschlichkeit einen Weg bahnen wollen. Nicht alle diese Leidträger können und wollen ihr Herz öffnen und ihre Wunden zeigen: Daran hindert sich auch beklemmende Angst um noch zurückgebliebene Lieben. Ich will erzählen, so wie ich es vor mir gesehen habe"!

In den Nächten des heißen Junis 1938 rollen durch ganz Deutschland gespenstige Sonderzüge. Sonderzüge, die äußerlich jenen Probeaufmärschen der großen Parteitage gleichen. Vielleicht sind auch dies „Probeaufmärsche". Wer weiß es? Von diesen Fahrten aber weiß niemand, im Lande drinnen und in der Welt draußen! Züge im Schnellzugtempo mit gewöhnlichen Personenwagen sind es, die beim rhythmischen Gesang der rasselnden Räder ihre Fracht nicht ahnen lassen. Züge sind es sogar, deren Insassen nicht einmal wissen, wohin die Reise geht, sondern es nur fürchten deshalb, weil ihnen gegenüber Polizeibeamte sitzen, deren entsicherte Gewehre ihnen keinerlei Bewegung gestatten. Hinter jedem dieser Züge her folgen unsichtbar und unhörbar die Tränen und Seufzer von mehr als 1000 Frauen, Kinder und Bräuten. Niemand außer den Verantwortlichen weiß, wieviel solcher Züge das deutsche Eisenbahnnetz kreuzen. Sorgfältig wird das Geheimnis gehütet.

Ein solcher Zug zu dieser Zeit trägt auch mich quer durch Deutschland weiter als mir je meine Verhältnisse zu fahren erlaubt haben. Peinigende Gedanken durchjagen mein Gehirn, das steif an seinen Platz gebannten Gefangenen, dem niemand bisher gesagt hat, für welche Tat und zu welchem Ziel und auf welche Zeit diese neue Gefangenschaft gilt.

Eine Verordnung des Reichsinnenministers vom Dezember 1937 erlaubt es, ,,asoziale und arbeitsscheue Elemente in Vorbeugungshaft" zu nehmen. Gegen diese vage gefasste Verordnung lässt sich vom Standpunkt der Verbrecherbekämpfung nicht allzu viel einwenden. So meinten damals die Harmlosen im Lande und draußen. Wer aber will urteilen, ehe er die Praxis solcher Bestimmungen kennt? Ein geheimer Ausführungsbefehl Himmlers an alle Kriminalstellen im Reich verlangte die schlagartige Verhaftung dieser „asozialen und arbeitsscheuen Elemente" in der Zeit vom 13. - 18. Juni 1938. Und eine Spezifizierung dieser „Elemente" besagt, dass darunter neben Zuhältern und Schwerverbrechern, auch politisch missliebige Arbeitslose und mit mehr als einem Monat vorbestrafte Juden gehören. So die Bestimmung, die Praxis aber zeigt das Leben.

Und so denke ich - ein Opfer dieses hohen Geheimbefehls - zurück an vergangene Jahre, während der Gefangenenzug eintönig seinen vorgeschriebenen Weg fährt und mit Tausenden auch mein Schicksal trägt.

Eine SS-Kontrolle fand bei mir im ersten Winter der sogenannten Erhebung eine verbotene Zeitung. Vergeblich haben damals Frau und Kinder auf meine Rückkunft gewartet; ich war in die Hände der Gestapo geraten und bin erst nach langen schweren Jahren wieder nach Hause gekommen: ich kann hier den harten Weg nicht beschreiben, den ich gegangen bin, das würde vom Thema abführen. Aber soviel weiß die Welt heute auch schon: In diesen Jahren waren die deutschen Gefängnisse und Zuchthäuser so überfüllt von sogenannten „Politischen", dass enge Zellen, bestimmt für einen einzelnen Gefangenen und ausgerüstet mit einem Feldbett, regelmäßig vier bis fünf Gefangene beherbergt haben. Jedermann mag daraus schließen, wie hoch neben dem seelischen Druck die körperliche Folter war. Und alle Illusionen müssen fallen: Die „Überzeugungstäter", die ein deutscher Jurist nicht mehr als solche erkennen darf, werden nicht nur den kriminellen Verbrechern gestellt und gleichgestellt, sondern auch unter weit schärferen und strengeren Strafvollzugsbedingungen gehalten. Endlich entlassen stand ich für weitere zwei Jahre ohne rechtliche Handhabe dazu unter Polizei- und Spitzelaufsicht. Das grausige Gefühl unter ständiger Beobachtung zu stehen, bin ich auch nachher nicht los geworden.

So vergeht die Zeit. Meine enge Familie hat sich redliche Mühe gegeben, mich die schweren Erlebnisse vergessen zu machen, die meine Lebensfreude trübten. So vergeht die Zeit, bis mich dieser Vernichtungswille der deutschen Machthaber trifft und in Sonderzüge verpackt, wer weiß wohin transportiert. Die Agenten der Polizei holen mich weg von meiner Frau, die in knapp einer Woche der Niederkunft unseres jüngsten Kindes entgegensieht. Da gibt es keine Rücksicht auf werdendes Leben! Es ist trotz aller Schrecknisse schwer zu entscheiden, ob nicht das passive Leiden unserer Frauen größer ist, als das unsrige. Denn sechs bange Wochen wussten unsere Frauen nicht, wo wir weilten und ob wir lebten!

Unser Sonderzug, der in strenger Isolierung alle Stationen durcheilt, nähert sich inzwischen der Hauptstadt Berlin. Wir umgehen die Hauptstadt und passieren den Vorort Oranienburg. Bei der nächsten Station Sachsenhausen macht der Zug halt. Wir haben die Zielstation erreicht. Die 500 Mann unseres Zuges waten im tiefen Sand der märkischen Heide, ,,Deutschlands berühmter Gestalten, die äußerlich einen solch verschmutzten Eindruck machen, wie man es in Deutschland nicht gewohnt ist. Breitbeinig stehen sie da. Das gefällte Gewehr schussbereit in der rechten Hand auf dem Gurt liegend. Den Finger am Abzug des Gewehrs. Unflätige Worte, Kolbenstöße und Fußtritte empfangen uns. Im Laufschritt treibt man die von 16stündiger Bahnfahrt Ermüdeten vor sich her. Wer zurückbleibt, wird erbarmungslos geschlagen. Ein Totenkopf schmückt die Warnungsschilder am Wege: ,,Das Parken von Autos, sowie das Betreten und Fotografieren des Geländes ist bei Lebensgefahr verboten". Als wir in die von Holzbaracken begrenzte Lagerstraße einbiegen, sagt uns ein weiteres Schild endgültig, wo wir uns befinden: Wir sind in den Händen der SS vom Konzentrationslager Sachsenhausen.

Die beiden Fahnen, die über diesem, wie über den vielen anderen Zwangslagern wehen, die Hakenkreuz- und SS-Flagge, werden nie mehr den Tod, den Schmerz und die Schmach abwaschen können, mit denen sie hier beschmutzt werden. Das hat mir ein heiliges Gefühl an jedem neuen Tag gesagt, an dem ich bei Hissung dieser Fahnen stramm stehen musste.

Nie vergesse ich nur eine Szene dieses barbarischen Empfanges. In offener Hufeisenform wurden wir aufgestellt. Die Juden (voll, halb und viertel Juden, wie sie es nennen) gesondert. Der Lagerkommandant begrüßt uns mit einer zynischen Ansprache, die an Offenheit nichts zu wünschen übrig lässt. ,,Wir sehen in Eure Gehirnkästen hinein. Eine blaue Bohne kostet nur acht Pfennig. Wer nicht pariert, bei dem heißt es: peng aus, fort mit dem Scheißdreck." Das war der wörtliche Kernsatz seiner Rede.

An diesem Tag verzeichnete das Konzentrationslager einen Zuwachs von 8000 Menschen, so dass es anstatt der 3000 bisherigen 11 000 Gefangene umfasste. Ich stehe unter den Juden. Ihre Vorstrafen, aufgrund deren sie jetzt noch einmal gefasst worden sind ( eine Tatsache, die bisher einmalig dasteht), waren meist „neuzeitliche". Vorwiegend Rassenschande, Devisenvergehen und Vorbereitung zum Hochverrat. Die Reihen durchschreitend fragt der Kommandant nach diesen Vorschriften. Und bei den Rassenschändern folgt regelmäßig seine Antwort: ,,Ab zur Küche zum Kastrieren". Tatsächlich sind Hodenbrüche zu verzeichnen gewesen, über deren Ursprung die Betroffenen ängstlich schwiegen.

Ich erinnere mich des armen Juden, der in der Reihe vor mir stand. Er schien ein wenig beschränkt zu sein. Vorstrafen hat er keine. Er gehört zu der großen Kategorie der ,,arbeitsscheuen Juden", die gefangen genommen sind, weil sie aus ihren alten Stellungen vertrieben, arbeitslos sind. Zu ihm sagt der Scharführer: ,,Sie müssen lächeln, wenn der Kommandant kommt." Das tut er prompt. Die klare Folge bleibt nicht aus. Der Kommandant verurteilt ihn zu 25 Peitschenschlägen wegen ungebührlichen Verhaltens. Der Verurteilte muss eigenständig den „Bock", das mittelalterliche Holzgestell, herbeischleifen, über den er unter dem wilden Griff der vertierten Scharführer geworfen wird, so dass seine Nase sofort blutet. Eisenklammern umschließen seine Füße. Hände spannen die Hose. Wuchtig und wohlgezielt, langsam und unbarmherzig sausen die schweren Schläge mit dem Ochsenziemer auf ihn. Nach dem letzten Schlag hängt die Hose in blutbespritzten Fetzen herab und blutige Wunden weisen den Weg der Peitschenhiebe auf dem halb ohnmächtigen Körper. Das ist die Erziehung Jahrtausend alter Leiden: Dem jungen Juden sieht niemand den Schmerz an, den er erlitten. Hinkend tritt er ins Glied zurück. In der Folge ist der Bock im KZ die tägliche Drohung geblieben. Eine Strafe, die ständig angewandt wurde als Einleitung zum Dunkelarrest. Ich erinnere mich an einen ältlichen Juden (angeblicher Rassenschänder, der natürlich, wie alle, seine wirkliche Strafe längst verbüßt hatte!), der angeklagt wurde, einen Kameraden ein Stückchen Brot gestohlen zu haben. Er wurde verurteilt zu drei Tagen Dunkelarrest bei Wasser und spärlichem Brot, 15 Stockhieben und täglich während des Arrestes je zwei Stunden hängen! Hängen, das war die zweite mittelalterliche Strafe an regelrechtem Martenpfahl. Da werden dem „Schuldigen" die Hände auf dem Rücken gebunden, an diesen Händen so hochgezogen, dass seine Füße den Boden nicht mehr berühren. Wer kann als Unbeteiligter solche Schmerzen nachfühlen? Stockschläge gab es der geringsten Delikte wegen, die mit bösen Willen jedem einzelnen von uns angehangen werden konnten.

Ohne Pause werden wir sofort eingekleidet, teils mit Sträflingskleidern, teils mit alten zerfetzten Soldatenkleidern. Unsere Köpfe werden kahl geschoren. Wir werden in die Isolierungsbaracke für die Juden eingestellt. Ein Schlafsaal von etwa 50 qm beherbergt 155 Gefangene. Auf jedem Strohsack müssen vorschriftsgemäß drei Menschen liegen. Der Luxus, auf dem Rücken zu liegen, wird mit Schlägen bestraft. Den Juden ist es verwehrt, nachts ein Fenster zu öffnen. Schweiß rinnt aus allen unseren Poren. Unterhaltung ist verboten. Hört die Wache einen Flüsterton von einem der 150 Menschen, dann ist es um uns geschehen: Wir haben unseren „Sport". Das sind Freiübungen im geschlossenen Schlafsaal, die mit Knüppelschlägen und Fußtritten der Wachposten verbunden sind. An einem Abend, der besonders in meiner Erinnerung haften geblieben ist, heißt es im Laufschritt heraus aus dem Schlafsaal und wieder hinein, ein Spezialvergnügen irgendeines Wachpostens, der diesen Vorgang mit wütenden Schlägen und gezücktem Revolver begleitet. Im Gedränge der unmenschlichen Enge (mein Freund kuriert noch heute sein dabei verletztes Bein) hat es viele Verletzte gegeben. Ein Jude von 70 Jahren, in diesem Alter hatten wir eine ganze Menge Juden bei uns, ist in dieser Nacht der Schwüle des Schlafraumes erlegen. Als beliebte kleine Strafe galt es auch späterhin mit oder ohne Strohsack auf den Abort für 8 oder 14 Tage schlafen und essen müssen, während die anderen zu gleicher Zeit dort ihre Notdurft verrichteten. Und wenn wir nachts im strömenden Regen der Willkür eines Wachpostens folgend im Hemd auf dem Hofe antreten mussten, dann hat es manche Lungenkranke gegeben, die mangels Behandlung ihrer Krankheit erlagen. Bei diesen Toten waren viele Jugendliche.

Für je 300 Leute gibt es ein Klosett mit vier Becken und einen kleinen Waschraum. Trotzdem heißt es für diese 300 Menschen morgens um 4.30 Uhr aufstehen und um 5 .15. marschbereit sein. Es lässt sich denken, welche Zeit da zum Frühstück bleibt. Das Frühstück besteht aus einer Art Kaffee, einem viertel Liter Milchsuppe und für den ganzen Tag ein halbes Stück der kleinen Kommissbrote. Doch darf dieses Brot nicht mit zur Arbeit genommen werden. Faktisch ist es jedoch so, dass das des abends ausgegebene Brot morgens meist aufgezehrt war.

Die Arbeit dauert mit An- und Rückmarsch zur Arbeitsstelle von morgens 5.30 Uhr bis abends 20.00 Uhr. 17 - 18 Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Darunter Menschen im hohen Alter, die wegen Geldstrafen oder Gewerbevergehen aus der Vorkriegszeit verhaftet worden sind. Unsere Märsche werden allmählich zum Symbol unserer Leiden. Berufsverbrecher, unsere unmittelbaren Vorgesetzten, entfalten schon beim Antreten und beim Appell ihr Machtgefühl. Sie haben manchen Mann von uns ohne weiteres mit der Faust oder mit Latten zu Boden geschlagen. Treten und Schlagen durch diese Berufsverbrecher wurde uns mit der Zeit zur Gewohnheit. So kommt der Ausmarsch. Ohne Rücksicht auf Fußkranke, Altersschwache und Krüppel geht es in schnellem Schritt, abwechselnd mit dem Kommando „Laufschritt, Marsch, Marsch" zur Arbeitsstätte. Hier zeigte sich immer wieder echte Kameradschaft, wenn einer dem anderen am Vorankommen half, obgleich auch das die Wachposten nicht sehen durften, ohne dass es Hiebe oder Kolbenschläge setzte. Wir haben hilflose Alte mit solcher Gewalt - zum Schutz vor den Grausamkeiten der Begleitmannschaft - mitgezogen, dass diese Anstrengungen heftige Muskelschmerzen hervorrief, die uns nächtelang nicht schlafen ließen. Aber wir durften niemand liegen lassen. Auf jeden, der die geschlossene Gliederung verließ, wurde scharf geschossen. Noch entsetzlicher war der Rückmarsch abends. Jeden Abend haben wir auf dem Rücken solche Kameraden geschleppt, die infolge Überanstrengung, Müdigkeit, Krankheit nicht mehr gehen konnten. Viele hatten auch Fieber. Solche waren unter ihnen, die auf der Arbeitsstätte - vielfach wegen der unmenschlichen Quälereien der Posten - zusammengefallen waren und dann von den Posten dadurch geheilt wurden, dass man in der Gluthitze des Hochsommers ihnen Gießkannen voll kaltem Wasser über den ganzen Körper schüttete. Von diesen täglichen Opfern sind dann regelmäßig einige gestorben. Und auch diese Kranken mussten nachher beim Abendappell mit stramm stehen. Das war eine Qual für diese Menschen. Fielen sie um, dann kamen die Blockführer über sie und traktierten sie mit Fußtritten so lange, bis sie entweder aufstanden oder tot waren. Ich habe gesehen, wie ein Blockführer einen solchen Mann erbarmungslos trat, der neben dem Glied auf der Erde lag. Bis auch er einsehen musste, dass der Mann längst tot war. Wie gesagt; Der Rückmarsch war immer eine besondere Qual. Nur mühselig schleppten sich die Kranken mit, die Geschlagenen mit offenen Wunden, die nur teilweise verbunden waren, die Sonnenverbrannten, Kopf, Ohren und Gesicht oft bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen.

Der Arbeitsplatz, kriegsgewichtige Anlage mit Unterständen, nahm uns stets auf für die Zeit zwischen der aufgehenden und sinkenden Sommersonne. Riesige Sandberge mussten bewegt und Kiefernwaldungen gerodet werden. Ob man je die Stimme des Berufsverbrechers vergisst, der als erster Vorarbeiter den Arbeitstag einleitete, indem er das Megaphon zur Hand nahm und mit heiserer kaum verständlicher Stimme wörtlich verkündete: ,,Die rote Fahne um das Schießstandsgelände bedeutet die neutrale Zone. Wer die neutrale Zone überschreitet, wird vom nächsten SS-Posten ohne Anruf scharf beschossen. Wenn er dabei getroffen wird, so ist es sein persönliches Pech.“ Von roten Fahnen zu sprechen, ist eine gewaltige Übertreibung. Es waren lediglich etwa ein halber Meter hohe dünne Äste, die am oberen Ende mit Rotmennige bestrichen waren. Solche Pfosten, in einem Kiefernwald aufgestellt, sind leicht zu übersehen. Tatsächlich haben allein in den ersten Tagen etwa 50 Menschen ihr Leben dadurch eingebüßt, dass sie unwissentlich die neutrale Zone überschritten haben. In der Folge allerdings haben wir auch manche Kameraden dadurch verloren, dass er in einem Augenblick der Verzweiflung über die Postenkette herausgelaufen ist. Dann mussten wir selbst unsere toten Kameraden beiseite tragen unter dem bösen Spott der Posten: ,,Jetzt könnt Ihr euren Sing-Sang machen, la-la-la.“ Auf der Arbeitsstelle wurden wir mit Schippen und anderen Werkzeugen ausgerüstet und mussten dann 14 Stunden lang Sand den Berg hinauf schaufeln und zwar ohne Pause, ohne still zu stehen oder den Platz zu wechseln. Ein Augenblick des Träumens kostet Kolbenstöße und Stockschläge. Selbst unsere Notdurft konnten wir nur verrichten, wenn die Luft rein, d.h. die Posten nicht in der Nähe waren! In gefährdeter Lage befinden sich alle die, die durch körperliche Merkmale aus der Masse hervorragten: Die besonders großen und die besonders kleinen, die Dicken und Brillenträger. Als „Intellektueller" bekannt zu sein, war ein direktes Unglück. Ihnen allen blühte der „Sport" auf dem Arbeitsplatz. Der bestand darin, in Sand und Schmutz auf dem flachen Boden oder bergab den Körper „rollen". Da hieß es, Sandberge hinauf kriechen, Kriechübungen im Sande machen, Baumwurzeln schleppen. Alles das verbunden mit Schlägen bis zur endlichen Erschlaffung des so Gequälten.

Einzelne Wachposten sahen ihre Spezialität darin, die Kameraden dicht an die „rote Fahne" heranzurufen, um sie durch „Sport" so zu ermüden, bis sie durch Zufall oder Müdigkeit die ,,neutrale Zone" um Millimeterbreite überschritten: Dann fiel erbarmungslos der Todesschuss. Ja, es sind genug Fälle vorgekommen, wo der Schuss schon vor der Grenze fiel: So genau kam es nicht darauf an. Die zahlreichen Todesfälle allein auf der Arbeitsstelle haben bei uns den bestimmten Eindruck erweckt, als herrsche ein bewusster Dezimierungswille vor!

Ein Tag war besonders schwer für mich. Mein Freund und ich mussten unmittelbar an der „roten Fahne" Bäume roden. Der Wachposten füllte seine Langeweile damit aus, uns nach Herzenslust anzutreiben. Wir mussten besonders schwer schuften, um nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, wegen „Drückens von der Arbeit" über den Bock gelegt zu werden. Zentnerschwere Baumstümpfe mussten wir beiden Sandberg hinauf rollen. Eine Sisyphus-Arbeit. Bei jeder Atempause rutschte der Stumpf wieder bergab. Plötzlich werde ich vom Postengerufen: Ein reines Spiel seiner Laune, muss ich mit vorgehaltenem schwerem Baumstamm 100 Kniebeugen machen. Das reicht jedoch nicht. Es folgen weitere 100. So habe ich kaum einen halben Meter von der ",,roten Fahne" diese mühselige, sinnlose Arbeit getan. Wäre ich vornüber gefallen: Es wäre um mich geschehen gewesen. Anschließend werde ich zum Posten nebenan kommandiert. Dort muss ich auf den Knien, auf dem Bauch, hüpfend, laufend und kriechend an der „neutralen Zone" entlang exerzieren. Dann heißt es ohne jede Unterbrechung den hohen Sandberg hinauf kriechen und herab rollen. Rolle ich einen halben Meter zu weit, dann ist es ebenfalls um mich geschehen, denn unmittelbar am Fuß des Sandberges steht der Posten mit gefälltem und schussbereitem Gewehr. So geht es weiter. Ich bin atemlos, nehme aber im Gedanken an meine Familie alle Kräfte zusammen, um nicht in einem unbewachten Augenblick die Grenze zu überschreiten. Bis mich dann ein Sturmführer mit dem Befehlt „Marsch, an die Arbeit" erlöst. So haben die Posten in der Tiefe des Abhanges ungesehen von allen übrigen Gefangenen das Spiel mit den Inhaftierten getrieben. Und viele von uns sind solchem Spiel erlegen. Sie haben die Freiheit nicht wiedergesehen. Sie, die vielleicht nie etwas wissen wollten vom politischen Geschehen, sind Opfer „der hohen Politik" einer kleinen Clique von Menschen geworden.

Der Unkundige fragt vielleicht, warum die Menschen die Folgsamkeit nicht verweigert haben. Aber dort - dicht an der „roten Fahne" im dunklen Kiefernwald drohte eben stets die willkürliche Kugel der blutjungen SS-Posten. Von morgens fünf Uhr bis abends acht Uhr gab es nichts anderes zu essen, als mittags ein Liter Suppe, wenn man es nicht vorzog, Brot mit auf die Arbeitsstelle zu schmuggeln. Dabei lief man aber Gefahr, gefasst und bestraft zu werden. Das volle Liter Essen erhielten die Juden nie. Ja, wenn es Hülsenfrüchte, die einzige schmackhafte Suppe dort, gab, hieß es regelmäßig: ,,Die Juden erhalten nur halbe Kost"! Und dieses halbe Liter Essen musste oft strafweise im Stehen und innerhalb fünf Minuten gegessen werden. Das war dann die einzige Pause während des ganzen Tages. Nebenbei sei bemerkt, dass 3-5 Leute hintereinander aus derselben ungewaschenen Schüssel essen mussten!

Mir, der ich mit der Feder ungewandter als mit der Landarbeit bin, ist es nicht möglich, alle die schrecklichen Scheußlichkeiten anschaulich wiederzugeben, so wie sie uns damals überfielen. Was ist schon von einem Kommandanten zu erwarten, der außer der eingangs erwähnten Rede einst zu seinem Pferde sagte: ,,Gell, Hans, da wirst Du auch unruhig, wenn Du die Judenschweine vorbeiziehen siehst". Unter solcher „Führung konnte es denn auch geschehen, dass Menschen bei lebendigem Leibe im Sande eingegraben wurden, um ihnen Todesschrecken einzujagen; dass andere Untergebene dieses Kommandanten einzelne Juden zu singen zwangen, indem sie auf den übereinander liegenden Körpern ihrer Mitgefangenen standen; dass wieder andere mit schlanken Gerten einschlugen auf die bloßen Körper der Gefangenen, die mit mehr als einer Tonne Sand beladenen Karren zogen.

An den Sonntagnachmittagen pflegten die Blockführer ihren besonderen „Spaß" mit uns zu treiben. Dann mussten wir unsere Kragen hochschlagen, zu 300 Mann in einem Schlafsaal antreten von wenig mehr als 50 qm Größe. Die Fenster mussten dicht geschlossen werden. Dann hieß es in dieser unmenschlichen Enge und in diesem unmenschlichen Dunst: Dauerlauf und Freiübungen machen, dass einer über den anderen fiel. Und Schluss wurde in der Regel erst dann gemacht, wenn einige ohnmächtig blutend vom Platz getragen werden mussten. Das war anscheinend das Ziel.

Ein Entkommen war unmöglich. Fluchtversuche, die wiederholt vorgekommen sind, wurden unmenschlich bestraft oder meist mit dem Leben bezahlt. Außer den festen Mauem war das Lager mit elektrisch geladenem Draht (Starkstrom) und Maschinengewehrtürmen versehen. Auch der Arbeitsplatz besaß Maschinengewehrtürme. Damals baute man übrigens im Lager eine Unmenge neuer Baracken. Wer von uns aber ahnte, dass diese Erweiterungsbauten für die Novemberaktion gegen die Juden bestimmt waren? War ein Gefangener flüchtig, so musste das ganze Lager so lange angetreten stehen, bis der Flüchtling eingefangen war.

Eines Tages bin ich dann aus dem Konzentrationslager zum Zwecke meiner Auswanderung „beurlaubt" worden. Das hatte ich der Möglichkeit zu verdanken, dass meine Familie genügend Mittel besaß, um meine Ausreise zu bezahlen. Kinderglückliche Kameraden aus jenen Tagen sind heute noch Insassen des Konzentrationslagers und haben die Schreckenstage und den Massenzugang vom November 1939 miterlebt, weil die Ihren über kein Geld verfügen.

Grauenhaft ist das Schicksal der alten Insassen, die schon bei unserer Ankunft damals Jahre in den verschiedensten Konzentrationslagern zugebracht hatten, zumeist „Politische" und „Bibelforscher". Alle diese haben fleischlose, entkräftete Körper, einen ständigen, unstillbaren Hunger, und einen irren, flackernden Ausdruck in den Augen. Nur die Widerstandsfähigsten sind übrig geblieben, die anderen hat der Tod erlöst. Sie haben uns bei geheimen, verbotenen Unterhaltungen immer wieder aufs Entschiedendste versichert, dass Sachsenhausen im Vergleich zu den anderen Lagern der Himmel sei. Sie haben oft wegen unscheinbarer Vergehen (verbotenes Rauchen, verbotenes Sprechen) zur Strafe lange Monate überhaupt keine Nachricht von ihren Lieben da draußen empfangen. Viele von ihnen sind durch die ununterbrochenen Qualen geistig gebrochen oder sogar geistig gestört. Viele haben körperliche Gebrechen davongetragen, die sich durch die mangelhafte Pflege stark ausgewirkt haben. Zähne fehlen vielen von ihnen. Wir fanden Einbeinige, Einarmige, Einäugige.

Dem Politischen bleibt als Hoffnung nur die Regimeänderung. Es sind einzelne frühere sozialdemokratische und kommunistische Abgeordnete. Weitaus zahlreicher jedoch sind die „unbekannten Soldaten" des politischen Kampfes, denen wirkliche oder scheinbare Straftaten nicht nachzuweisen sind (sonst hätte man sie ja vor Gericht gestellt).

Anders ist die Lage der Bibelforscher (in Sachsenhausen mehr als zweitausend, in den übrigen Lagern jeweils eine ähnliche Anzahl), die deshalb 3-5 Jahre gefangen sind, weil sie die irdische Regierung Hitlers nicht anerkennen, an Jehova glauben und den Kriegsdienst verweigern. Manche von ihnen würden frei kommen, wenn sie ihre Bereitwilligkeit erklären würden, für das Regime einzutreten. Ich habe diese Märtyrer für ihre Idee bewundern müssen, wie sie da als mittelalterliche Wasserträger im Joch herumgingen. Es sind Jünglinge unter ihnen und bejahrte Familienväter. Der Hunger plagt sie stets. Anfänglich soll es ihnen schlechter gegangen sein, als den Juden später. Es war uns Juden verboten, Wasser zu trinken. Eine Unmöglichkeit bei·l4stündiger Arbeit in glühender Sonnenhitze. Da haben uns die Bibelforscher insgeheim geholfen, in dem sie uns Wasser abgaben aus ihren verrosteten Blecheimern. Wir dagegen zeigten uns erkenntlich durch kleine Brotreste, wofür wiederum die Bibelforscher nicht genug des Dankes wussten. Mit unseren Krätzchen haben wir so Wasser „gestohlen". Und oft tranken wir vor Durst mit dem Wasser den Schweiß unserer Kameraden aus dem Stoff ihrer Mützen.  Selbst den täglichen Kreuzverhören der Sturmführer gegenüber waren die Bibelforscher gesinnungstreu und standhaft. Ich gedenke neben den politischen Gefangenen oft dieser tapferen und aufrechten Menschen.

Die Bestimmungen des ständig schussbereiten Gewehrs der Wachmannschaft war bei unserer Einlieferung eine neue Verfügung. Ebenso wie das Entlassungsverbot für lang inhaftierte Gefangene. Grund für diese Bestimmungen war das gelungene Entkommen zweier Gefangener aus dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar.

Dort hatten zwei sozialdemokratische Häftlinge den einzelnen Wachposten, der mit ihnen auf Außenarbeit war, mit der Schippe getötet und waren dann entflohen. Nur Menschen, die in Deutschlands Lagern gefangen gewesen sind, können dieses kühne Unternehmen genügend bewundern. Und Peter Forster, der eine dieser beiden, hat tausendmal recht, wenn er sagt, dass er in Notwehr handelte, als er den Posten tötete.

Seinen Kameraden hat man nach wenigen Tagen in Süddeutschland eingefangen und nach Buchenwald zurück transportiert. Dort ist er erst fast zu Tode geschunden und misshandelt worden. Dann hat man einen Galgen für ihn gebaut und vor den versammelten 12.000 Insassen des Lagers gehängt. Tagelang hat man als ,,Warnung" dort mitten im Lager die Leiche am Gerüst belassen. Der Held Peter Forster war nach der Tschechoslowakei entkommen. Dieser Rumpfstaat von Deutschlands Gnaden hat ihn am 19. Dezember 1938 ausgeliefert. Am 20. Dezember 1938 reiste der Magdeburger Scharfrichter nach München. Am 21. Dezember 1938 war der Scheinprozess gegen Forster in München und am Abend des gleichen Tages schon fiel sein Kopf Wir beugen uns seinem Angedenken.

Mein kurzer Bericht ist denkbar unvollständig. Ich konnte nur den Alltag des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin schildern. Alle die unzähligen, furchtbaren Einzelfälle sind unberücksichtigt geblieben. Verlässliche Freunde bezeugen, dass die Novemberaktion gegen die Juden sich noch schrecklicher und schauriger ausgewirkt hat. Daran war keineswegs allein der deutsche Winter schuld, obgleich der sich in den Lagern doppelt schwer auswirkt. Die Zahl der bei dieser Aktion gebliebenen Todesopfer ist naturgemäß ungezählt. Alle aber, die inzwischen wieder entlassen wurden (der Bruchteil der im Lager verbliebenen ist höher als man gemeinhin glaubt), sind krankenhausreif gewesen, haben sich müssen operieren lassen und tragen körperlichen und seelischen Schaden für ihr Lebtag davon.

Man kann nicht sagen, wie viel hunderttausend Menschen, Männer wie Frauen, die Konzentrationslager Deutschlands bergen. Dieses Riesenheer Gefangener und Gequälter zeugt aber von dem Niedergang der deutschen Kultur und Zivilisation, zeugt aber auch beredt für die ungeheure innere Schwäche des äußerlich scheinbar so starken Reiches.

Sie alle, diese Opfer des gegenwärtigen Systems in den Zuchthäusern, Gefängnissen und Konzentrationslagern klagen an die Nachbarstaaten Deutschlands, welche sich nicht scheuen, deutsche Flüchtlinge über die Grenze zurückzuschicken in die Hand der blutigen, sadistischen Schergen. Sie bitten dringend alle Menschen, die guten Willens sind: Schafft Heimstätten für die Flüchtlinge aus der deutschen Sklaverei, gewährt ihnen eine neue Heimat!

Die große Welt hat trotz allem noch Raum genug für alle Verfolgten und Flüchtlinge!

25. Oktober 1988

 

Überlieferter Lebenslauf von Günter Ransenberg

 

Am 28. August 1907 wurde Günter Ransenberg als jüngstes von sieben Geschwistern in Neuwied geboren. Seine Familie kam aus Westfalen, der Vater Julius Ransenberg war seit 1988 Rabbiner und Lehrer in Neuwied. Günter R. übernahm die Buchdruckerei seines Schwagers, die bankrott war, und lernte das Buchdruckerhandwerk in Aachen. Am 14. Januar 1934 wurde er zum ersten Mal verhaftet:

"Eines schönen Sonntags ging ich mit zwei nicht-jüdischen Freunden, einem Kölner und einem Aachener, über die Grenze (nach Holland). Der Kölner bat uns, ihm zu helfen, damit er sich über die Anti-Nazi-Literatur informieren könne. Offenbar wurden wir beobachtet. Als wir nach Deutschland zurück kamen, wurden wir an der Grenze verhaftet.

Die beiden Freunde hatten Zeitungen und Papiere bei sich, ich nichts. Ich habe ihnen nur den Weg durch den grünen Wald gezeigt.

"Damals habe ich den Hauptschlag meines Lebens empfangen. Ich war ein normaler Bürger, der eine Verurteilung als das schlimmste ansah, was ihm geschehen konnte. Nach einem Jahr Untersuchungshaft wurde ich in Hamm in Westfalen vor dem Volksgerichtshof zu 2 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt.

Im Juli 1936 wurde er entlassen. Bis 1938 arbeitete er in seiner Buchdruckerei. "Dann kamen zwei Männer in die Buchdruckerei und sagter zu meiner Frau (sie war Christin): 'Wir müssen Ihren Mann mitnehmen. Das war im April oder Mai. Günter Ransenberg kam nach Sachsenhausen. Vor dem Abtransport konnte er seine Frau noch einmal sprechen. "Du mußt mir eine Ausreisegenehmigung besorgen - sei es nach der Arktis oder Antarktis", sagte er ihr.

Seine später in Auschwitz ermordete ältere Schwester Irma Ransen¬berg ermöglichte ihm die rettende Ausreise! Durch Irma hörten wir, daß man aus dem KZ herauskommen könne, wenn man die Ausreise in außer¬europäische Länder hatte. Es gelang ihr, im mexikanischen Konsulat in Köln ein Touristen-Visum für Mexiko zu bekommen."

Am 27. August 1938 verließ Günter Ransenberg Deutschland per Schiff, am 17. September ging er in Veracruz an Land. Seine Frau und die beiden Kinder - eine fünfjährige Tochter und ein Baby - blieben in Deutschland zurück. Auf abenteuerliche Weise kamen sie 1940 über Italien nach. Fünf seiner sechs Geschwister wurden in deutschen Konzentrationslagern umgebracht.

In Mexiko arbeitete Günter Ransenberg zunächst auf dem Lande, dann machte er sich als Samenhändler in Puebla selbständig. "Von da an habe ich mich durchgeschlagen. Mehr oder weniger, ohne große Güter anzuhäufen. Aber ich hatte meine kaufmännische Erfahrung von drüben. Ich habe neuartiges Saatgut eingeführt und habe damit Er¬folg gehabt ...'' Den Großhandel übernahm sein Sohn, das Einzelhandelsgeschäft in Puebla hat er selbst bis ins hohe Alter geleitet.

Am Türpfosten seines Wohnhauses ist die Mesusa angebracht - doch die wenigsten Besucher kennen ihre Bedeutung. Im Wohnzimmer: Menorah, Chanukkiah, Sabbath-Leuchter. Im Arbeitszimmer: Bücher in spanischer und deutscher Sprache, Heinrich Heine, Stefan und Arnold Zweig ... die Enzyklopädie Judaica ... Und ein Bild des Reformers Benito Juarez, des einzigen indianischen Präsidenten, den Mexiko je gehabt hat, der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Trennung von Staat und Kirche durchführte.

"Ich liebe Mexiko", sagt der 87jährige über das Land, in dem er seit 56 Jahren lebt, "aber Mexikaner bin ich nicht geworden. Es ist seltsam, und ich habe mich dessen manchmal geschämt, aber ich bin Deutscher geblieben. Denn alles, was ich an Kultur aufgesogen habe, ist deutsch ... Ich kenne heute auch das eine oder andere Gedicht auf Spanisch - aber es hat nicht den selben Geschmack für mich wie ein deutsches Gedicht."

"Die Leute können in Deutschland noch so viel darüber schreiben, wer Jude und wer Deutscher ist - bis ich mein Haupt darniederlege, bin ich ein deutscher Jude.

Mitstenographiert bei einem Gespräch mit Günter Ransenberg im Februar 1995 in Puebla

(Ursula Schütze, Essen)

Michael Max Saunders (früher: Sander) 13.1.1910 - 13.3.1989

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Ausschnitte aus einem Gespräch mit Schülern und Schülerinnen des 10. Schuljahrs der Hauptschule Niederbieber v. 22.5.1986)

 

Die Familie: (zusammengefasst):

Meine Mutter war aus Thalhausen, mein Vater aus Niederbieber. Mein Vater hat im 1. Weltkrieg gekämpft. Er starb 1934. Meine Mutter war in der Munitionsfabrik bei Winkler & Dünnebier

Mutter, Frau und 4-jährige Tochter wurden im KZ ermordet.

 

(Zur Deportation:)

Das war im Juli 1942. Die [Juden] wurden dann von der Gestapo eingesammelt und in ein Konzentrationslager gebracht. – Ich bin am 14. Juli 1938 verhaftet worden, ohne Grund und ohne alles. … Wenn wir Juden ein kleines Vergehen hatten, wie man sagt, ne Polizeistrafe, das Nummernlicht hat nicht gebrannt oder man hat falsch geparkt, oder sonst irgendwas, wo man aufgefallen ist, das wurde damals so schwer geahndet, das Gefängnis oder Zuchthaus darauf stand. Und ich wurde 1938 eingeliefert in Neuwied ins Stadtgefängnis und acht Tage später kam ich dann nach Berlin, Oranienburg – Sachsenhausen, ins Konzentrationslager, ohne Grund und ohne alles, nur weil ich Jude war.  … In der Stadt hier war kein Konzentrationslager.

 

Gab es Leute, die den Juden geholfen haben?

Ja, es gab sogar welche, die Juden im Keller versteckt haben. Da war einer, der war selbst in der Partei und hat den Stürmer verkauft. Der hatte 4-5 Juden im Keller versteckt, vielleicht drei Jahre.

Die Leute hatten Angst. Verschiedene waren im Rasselstein am arbeiten. Ich will Dir nur ein Beispiel erzählen. Mein Vater war im Gesangverein; er ist 1934 gestorben. Nun ist es üblich, wenn ein Vereinsmitglied stirbt, dass der Verein [mit der Beerdigung] mitgeht. Die hatten alle keine Courage, waren alles Rasselsteiner Arbeiter. Die sind hinten rum in Niederbieber, haben hinter den Sträuchern gestanden und haben meinem Vater die letzte Ehre erwiesen. Im Geleit selbst sind sie nicht mitgegangen, weil sie Angst hatten, sie würden ihre Arbeit verlieren.

 

(Über die damaligen Mitbürger:)

Was soll ich darüber gedacht haben? Ich war im Fußballverein; ich durfte nicht mehr auf den Fußballplatz gehen, wir durften nicht mehr ins Kino gehen, wir durften nicht mehr in ein Lokal gehen. Das war 1935, am 15. September, da kamen die Nürnberger Gesetze raus, … Wir durften uns in der Allgemeinheit … nicht mehr aufhalten. … Die jüdischen Geschäfte wurden boykottiert. Da stand die Hitlerjugend oder die SA vor dem Geschäftshaus und dann hieß es Kauft nicht bei Juden! und später wurde dann groß an der Scheibe Jud hingeschrieben. Und die Leute sind eben nicht mehr kaufen gegangen, aus dem einfachen Grund, weil der Mann am arbeiten war und der würde dadurch seine Arbeitsstelle verlieren.

In der Pogromnacht 1938, am 9.November, wurden die ganzen Geschäfte geplündert, bei den Privathäusern wurden die Möbel aus den Fenstern geworfen und die Männer kamen in ein Konzentrationslager, aber das war noch nicht die richtige „Aktion“, die kamen in ein Konzentrationslager, … die meisten wurden nach 4 oder 6 Wochen wieder entlassen.

 

Wie wurden Sie im Konzentrationslager behandelt?

… Eines Tages kam der Kreisarzt [zu mir ins Gefängnis]; wir wurden untersucht, ob wir [zum Transport] tauglich waren oder nicht. Also, ich war ein junger Kerl, damals 28 Jahre. Wir kamen nach Weißenthurm, da war ein Zug, aber kein Güterzug, ein Personenzug, der war voll mit jungen Menschen, die alle ins Konzentrationslager sollten. Es waren nicht nur Juden, es waren auch andere dabei, Asoziale, Verbrecher. Da wurden wir auch reingepfercht. Die Fahrt ging durch bis nach Berlin-Oranienburg. Da wurden wir mit Kolbenhieben aus dem Zug raus getrieben. Da waren alte Menschen dabei, die sind umgefallen und wurden mit Kolbenhieben wieder aufgetrieben. Dann kamen wir in ein großes Camp. Da stand die SS mit geladenen Gewehren und da war ein Oberführer, das war der Kommandant von dem Lager, die standen in Reih und Glied. Der ging zu einem und fragte: „Warum bist du hier?“ Sagte der: „Ich weiß nicht, warum.“ Dann wurde der auf den Bock geschnallt und mit einer Peitsche bekam er 25 Hiebe. Wenn er den nächsten gefragt hat, der wusste dann Bescheid und sagte: „Weil ich nicht brav war.“ Das wollte der hören. Dann kamen wir in ein großes Zimmer, bekamen die Haare geschnitten und mussten baden. Das war damals noch human, eine richtige Badeanstalt. Nicht wie später, 1942, es gab noch keine Vergasung. Wir mussten arbeiten, hatten einen Schießstand gebaut; wir waren isoliert, weil wir Juden waren. Block 15/16 waren nur Juden. (Passage nicht verständlich.) Wir haben ganz unproduktive Arbeit gemacht. Wir mussten einen Sandhaufen von hier da hin schaufeln und dann wieder von da nach hier hin. Abends sind wir dann im Block einmarschiert.

 

Da waren überall rote Fähnchen markiert, wo wir gearbeitet haben. Und dann sagte der Kommandant: „Meine Jungens schießen wie die Götter. Wenn ihr hinter die roten Fahnen geht, bekommt ihr nen Kopfschuss.“ Ein Mann hat sich nichts dabei gedacht, hat die Wache gefragt: „Darf ich mal austreten?“ „Ja, geh mal da ins Gebüsch.“ Da hinter der roten Fahne legte er das Gewehr an und hat ihn niedergeknallt. In dem Moment mussten wir uns alle hinlegen, den Kopf in die Armbeuge und durften nicht aufsehen. Wer aufgesehen hatte, bekam wieder einen Schuss. Es war alles totenstill. Die Leiche wurde nach Hause geschickt; die Angehörigen mussten dafür bezahlen. Er ist angeblich an Lungenentzündung oder ähnlichem gestorben. Wir durften auch den Sarg nicht mehr aufmachen. Das war schon 1938/39.

Die „Bibelforscher“[1] waren auch da, weil sie nicht unterschrieben hatten, dass sie Adolf Hitler anerkennen. Die waren frei, nur in der Hütte (?), aber nicht isoliert, die konnten sich frei bewegen. Das hat ungefähr ein ganzes Jahr gedauert, dann kamen wir auch frei. Es wurde die Isolation aufgehoben …(??)… dann war es etwas besser und nicht so beengt.

Ich wurde 1939 entlassen, weil meine Frau für mich die Auswanderung nach England gemacht hat. Ich hätte vorher schon in die Dominikanische Republik [auswandern können], aber da bin ich nicht frei gekommen. Ich hatte nämlich einen „guten Freund“ in Neuwied, der hat gesagt, es wäre zu früh mich zu entlassen. Dann wurde ich am 22. August 1939, 7 Tage vor dem Krieg, entlassen. Aber ich durfte nur eine Nacht zuhause bleiben für den nächsten Zug nach England.

 

(Die Folgen des Boykotts:)

Wenn die Käufer ausblieben, blieb [dem Besitzer des Geschäfts] nichts anderes übrig als zu verkaufen. Aber der konnte nicht sagen „Ich will für mein Haus 30 oder 40 Tausend Mark haben.“; der Käufer hat den Preis diktiert. Der hat vielleicht gesagt: „ Ich gebe dir für deinen Laden oder dein Haus, das damals 20 Tausend Mark wert war, 5 Tausend. Entweder du nimmst es oder ich hol es so.“ Manche waren froh, wenn sie 5 Tausend Mark bekamen, weil man sie gebraucht hat für die Auswanderung. Das fiel damals noch leichter. Wer damals Geld hatte, der konnte auswandern.

 

(Eine Anekdote:)

Da war der Friseur Willi Flachskamm, der war in der SA, der hat mir immer die Haare geschnitten und mich rasiert. Und unser Kreisleiter Detlev Dern hat sich auch die Haare schneiden lassen, und ich war vor ihm dran. Da sagte der Inhaber von dem Geschäft: „Der Nächste, bitte.“ Der wusste, wer ich war. Da sagte der Kreisleiter (der hat gestottert): „A-auf di-esen Stuhl setz’ ich mich nicht.“

 

 

(Im Exil in England:)

… Das Schlimmste war: Adolf Hitler hat meine Staatsbürgerschaft gestrichen. Ich war staatenlos, als ich nach England kam. In England bekam ich die britische Staatsangehörigkeit, da ich über 14 Jahre da war. Ich habe da Lastwagen gefahren. Dann kam ich nach Neuwied zurück, 1952 oder 53. Ich musste als Ausländer alles doppelt bezahlen. Da habe ich einen Bekannten getroffen, der war im Landratsamt. Dem habe ich gesagt: „Ich bin hier in Heddesdorf oder Neuwied geboren, der Adolf Hitler hat mir die Nationalität gestrichen. Aber ich bin doch Deutscher!“ Dann hat der mir ein Formular hingelegt, das habe ich unterschrieben. „So, jetzt bist du wieder Deutscher!“

 

(Nach dem Krieg:)

Wenn die Care Pakete nicht gewesen wären, wäre manch einer arm dran gewesen. Da hat manch einer geguckt, ob er nicht eine nicht-arische Großmutter hatte. Aber der Hass war wie abgeblasen, aus dem einfachen Grunde, die haben gedacht, wenn die Juden wiederkommen, dann gibt es wieder Handel und Wandel. Der Stern[2] hat damals sein Geschäft wieder übernommen.

… Ein Beispiel: Da war die israelische Flagge an der Anlegestelle. Da stand ein älterer Mann mit einer jungen Frau. Ich kam da vorbei und guckte den an, ich habe ihn gekannt, das war nämlich ein ganz großer Nazi. Da hab’ ich zu ihm gesagt: „Das hätt’st du dir auch nicht träumen lassen, dass hier mal die israelische Flagge hängen würde.“ – „Ach nee, das war ja so und so; kannst mich ja mal anrufen.“ Ich habe ja weiter nichts gesagt als „Ja, wenn ich Zeit hab’, ruf ich Dich mal an.“

Die sagen, es ist alles vorbei, lange vorbei. Obwohl meine Frau, meine Mutter, mein Kind vergast wurden. Das war vor 40 Jahren. Man kann ja nicht ewig hassen und hassen und hassen.

 

 

Auskunft Archiv der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (gez. Monika Liebscher) (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!) Az.: 2-10/5 v. 4.3.2008

 

1) Die Akten der Kommandantur des KZs einschl. der Häftlingskartei wurden von der SS bereits im Frühjahr 1945 vernichtet. Die meisten Akten befinden sich heute in Archiven der Russischen Föderation.

Frau L. empfiehlt Kontakt mit dem Internationalen Suchdienst, Große Allee 5-9 in 34454 Bad Arolsen, der als zentrale Erfassungsstelle aller im In- und Ausland verwahrten Unterlagen über KZ-Häftlinge fungiert.

2) 3 Einträge zu Max Sander: Er kam am 21.6.1938 im KZ Sachsenhausen an. Einlieferung im Namen der sog. Aso-Aktion (Sommer 1938), als die SS Tausende von „Arbeitsscheuen“, Wohnungslosen, Vorbestraften und Politischen verhaften ließ, um Arbeitskräfte für Steinbrucharbeiten in den verschiedenen KZs zu gewinnen.

 

3) DATEN:

Max Sander, * 13.1.1910, Einlieferung Sachsenhausen: 21.6.1938; Häftlingsnummer: 003824, Kategorie: arbeitsscheuer Jude. Entlassung: 18.8.1939

  

 

[1] gemeint sind wohl die „Ernsten Bibelforscher“, die heutigen „Zeugen Jehovas“

[2] Gemeint ist wohl Fritz Stern.

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